Das Auffordern beim Tango
Warum tanzt er/sie nicht mit mir?
Diese Frage hat sich jeder schon des öfteren gestellt. Neben einem großen Interpretationsspielraum für die diversen Gründe führt sie auch oft zu falschen Rückschlüssen. Gerade weniger erfahrene Tangotänzer-/Innen unterschätzen die Vielzahl der möglichen Gründe hinter dieser an und für sich einfachen Frage. Es mag ihn ja geben - den Traum aller Tänzerinnen - den phantastischen Tänzer, der jederzeit mit jedem zu allem tanzen kann und will und dies aus freien Stücken auch tut. So wünschenswert dies auch sein mag und von manchen vehement eingefordert wird, die Realität sieht leider meistens anders aus. Ich habe jedenfalls noch kein Exemplar dieser seltenen Gattung, sei es Tänzer oder Tänzerin kennen lernen dürfen.
Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Gründen, welche die Entscheidungsfindung wer, was mit wem tanzen möchte beeinflusst. Es ist unpopluär dies öffentlich zu diskutieren und darum liest man selten etwas darüber. Wer mich kennt, weiß allerdings, dass ich mich davon nicht abschrecken lasse. Ich möchte daher einige dieser möglichen Gründe nachfolgend anführen um etwas Licht in diese geheimnissvolle Welt der Tanzpartnerauswahl beim Tango zu bringen. Die meisten dieser Gründe gelten in beide Richtungen, ich werde aber bevorzugt vom Tänzer in der führenden Rolle ausgehen, da auf diesen bestimmte Gründe noch stärker zutreffen als dies für die Tänzerin, bzw. die folgende Rolle der Fall ist.
Auch hier verwende ich wieder den Tänzer in der führenden und die Tänzerin in der folgenden Rolle, was selbstverständlich sämtliche möglichen Kombinationen nicht ausschließen soll.
- Einer versucht mittels Cabeceo aufzufordern, der andere erwartet angesprochen zu werden. Beide werden sich so systembedingt nie finden. Ein sehr einfacher Grund, der unter Umständen nur schwer überwindbar ist, wenn beide aus Überzeugung ihr System des Aufforderns praktizieren.
- Unterschiedliche Tanzstile: Nicht jeder kann oder möchte jeden möglichen Tanzstil tanzen. Präferiert einer einen offenen Tanzstil, der andere den geschlossenen und wissen sie das voneinander, dann kommt es möglicherweise deswegen zu keiner Aufforderung.
- Das/der/die Unbekannte: viele erfahrene Tänzer-/Innen tanzen aus Prinzip nicht mit jemand den sie vorher noch nicht tanzen gesehen haben. Eher typisch für erfahrene Tänzerinnen. Die Gründe dafür können verschieden sein und von wenig ausgeprägtem "Experimentalsinn", kein Interesse (z.B. wenn schon mehr als genug bekannte Wunschtänzer-/Innen anwesend sind) über Stimmungslage bis Image (wer mit wem wie gesehen wird) reichen.
- Nicht alle Tänzer können zu jeder Musik tanzen, bzw. wollen das. Manche tanzen keine Milonga, oder möchten nicht zu Tangos von Pugliese, Piazzolla, oder Nuevo-/Neo-/Non-Tangos tanzen. Wird ein Stück gespielt, dass ein Tänzer nicht tanzen kann oder möchte, dann wird er das auch mit seiner Lieblingstänzerin nicht tanzen, geschweige denn mit jemand den er nicht kennt. Es wird hier das Verständnis vorausgesetzt, dass der Tänzer zur Musik tanzt und sich nicht unabhängig davon bewegt.
- Viele erfahrene Tänzer wissen zu welcher Musik sie mit wem in welchem Stil tanzen möchten. Auch dies setzt eine bestimmte Tiefe der Musikinterpretation voraus und betrifft keine von der Musik unabhängige "bewegungstherapeutische Aktivität". Es gibt vom Typ her eine Vielzahl unterschiedlicher Orchestren und Möglichkeiten diese zu tanzen. Nun ist es oft so, dass Tänzer-/Innen Präferenzen zu der einen oder anderen Musikrichtung haben und diese auch besser als andere tanzen können. Entsprechend können Tänzer bevorzugte Tänzerinnen für verschiedene Orchesterstile haben. Z.b. kann ein Tänzer mit einer bestimmten Tänzerin besonders gut schnelle, rhythmische Orchester wie z.B. D'Arienzo, oder Biagi, mit einer anderen Tänzerin gerne zu langsamen und meldoischen Orchester wie Pugliese und wieder mit einer anderen zu Non-Tangos tanzen.
- Mit manchen Tangos können bestimmte Erinnerungen und ganz besondere Momente verbunden sein. In der Regel möchte ein Tänzer solche besondere Tangos wenn überhaupt, dann nur mit jemand tanzen, den er kennt und weiß, dass es ein besonders schöner Tango wird.
- Es wäre unehrlich zu behaupten, dass die Optik keine Rolle spielt - oft tut sie das. Auch hier wieder ein Thema, dass ausgesprochen heikel ist und selten öffentlich disktuiert wird. Neben anderen weniger einleuchtenden Gründen ist dies aber eine völlig normale und verständliche Sache. Milongabesucher kommen in der Regel mit der Absicht einen schönen Abend in ihrer Freizeit zu verbringen. Es ist verständlich, dass dies vorzugsweise mit Personen gemacht wird, die einem sympathisch sind. Gerade das Tanzen in enger Umarmung wird man nicht unbedingt mit jemand anstreben, den man aus was für Gründen auch immer unsympathisch findet. Man denke hier beispielsweise and das hier im wahrsten Sinn des Wortes passende Statement: "sich riechen können"! Auch wird es kein großer Tangomoment werden, wenn die "Chemie nicht stimmt".
- Größenunterschied: Obwohl sowohl enges, als auch offenes Tanzen mit fast jeglicher Größendifferenz prinzipiell möglich ist - nicht alle können und wollen es. Einerseits kann es deutlich schwieriger werden, vor allem wenn die Beteiligten das Tanzen mit großer Größendifferenz nicht gewohnt sind. Manche Tänzer-/Innen bevorzugen aber einfach auch nur einen Tanzpartner in einer bestimmten Größe. Ein weiteres Problem ist die Kombination einer großen Größendifferenz mit enger Tanzhaltung. Manche stört es nicht, manche möchten aber nicht mit der Nase in den Brüsten der Tanzpartnerin, oder dem Brusthaar des Tänzers verschwinden. Dies führt oft zu dem Nachfolgeproblem, dass ein Tänzer gerne eng tanzen würde, die Tanzpartnerin aber auf Grund dieser Problematik auf eine offene Tanzhaltung ausweicht.
- Zu guter Letzt sind Entscheidungen wer mit wem tanzen möchte natürlich auch von Tagesverfassung, Laune, Expermentierfreudigkeit und vielen anderen Faktoren bestimmt.
Wie wir sehen, also ein durchaus komplexes Thema. Ich möchte diesbezüglich in beide Richtungen für größtmögliche Toleranz plädieren. Es gibt viele Gründe warum wer mit wem wieso wozu tanzen möchte. Wir sollten versuchen zu akzeptieren, dass jede einzelne Person ihr ganz persönliches Recht hat das für sich so zu entscheiden wie sie möchte.
Immer wieder hört man von einer Verpflichtung von "besseren (meistens) Tänzern" gegenüber Anfängern und Lernden auch mit diesen tanzen zu müssen. Diese Art der Argumentation öffnet ein ganz neues und ebenfalls sehr weites Diskussionsfeld. Wer ist ein besserer Tänzer, wer ist ein Schlechterer, wie oft und in welchem Abstand soll das gemacht werden, was ist mit Tänzern-/Innen die nicht an sich und ihrem Tanz arbeiten wollen und sich daher auch nicht verbessern, uvm. Jeder wird seinen Weg und seine Einstellung diesbezüglich finden müssen und sollte deswegen nicht von anderen verurteilt werden.
Es wird auch gerne übersehen, dass es ganz unterschiedliche Beweggründe und Erwartungen in die Ausübung des Tango Tanzens gibt. Diese reichen von einmal für ein paar Kurse hineinschnuppern, und ich hab es einmal auf einem bestimmten Niveau gelernt und komme 1-5 Mal im Jahr auf eine Milonga, über mehrmals die Woche in Milonga und Workshops tanzen und lernen bis zu semi-/professionellen Ambitionen mit entsprechend intensiver Auseinandersetzung. Es liegt für mich persönlich auf der Hand, dass sich nicht alle Beteiligten dieser verschiedenen Gruppen tänzerisch gleich gut verstehen können. Ich sehe auf der anderen Seite aber genauso wenig ein, dass man sich abseits des tanztechnischen nicht hervorragend verstehen können sollte.
Jeder kennt auch das Phänomen, dass junge, hübsche Tänzerinnen manchmal sogar unabhängig vom Tanzkönnen bevorzugt aufgefordert werden. Was soll ich dazu sagen - so ist es halt. Zur Ehrenrettung ergänze ich aber auch, dass dies auf erfahrenere Tänzer in der Regel nicht oder nur in Ausnahmesituationen zutrifft. Diesen geht es in der Regel vorzugsweise darum einen schönen Tango angenehm tanzen zu können - Aussehen und Alter ist hier sekundär. Allerdings und das ist natürlich wieder hoch unpopulär - stehen die erlebten Tanzerlebnisse im Mitbewerb zueinander. Wenn ein Tänzer oder eine Tänzerin nach nur einer Tanda auf Grund von falscher oder schlechter Technik Fuß, Arm, Schulter oder Rückenschmerzen bekommt, dann wird es ganz unabhängig von Aussehen oder Alter zu nicht vielen Wiederholungstänzen kommen.
In etwas abgewandelter Form ist es übrigens auch in der Gegenrichtung um nichts besser. In den zugegebenermaßen seltenen Situationen eines ausgesprochen hohen Levels an Tänzern wie dies auf manchen Tangomarathons beispielsweise der Fall sein kann, gibt sich praktisch keine Tänzerin mit einem nur durchschnittlich oder gar schlechten Tänzer zufrieden.
Hin und wieder werden dennoch oben beschriebene Prinzipien über den Haufen geworfen, wenn gerade im richtigen Moment aufgefordert wird. Manchmal führt dies zu einem überraschend positiven Erlebnis und manchmal bestätigt sich auch die Befürchtung und der Grund seiner Prinzipien.